Rechtsanwalt Daniel Werner über Super-Recognizer

Bild: Fantastic Floodlights

Polizeibeamt*innen mit besonderen Fähigkeiten oder der pseudowissenschaftliche Versuch anerkannte Beweisstandards zu relativieren?

– Eine kritische Betrachtung unter besonderer Berücksichtigung der sächsischen Verhältnisse. –

von Daniel Werner, Rechtsanwalt aus Leipzig

Super-Recognizer (im Folgenden mit SR abgekürzt) sind ein relativ neues Phänomen: Es soll angeblich Menschen geben, die Personen treffsicher an ihrem Gesicht erkennen können, selbst wenn sie dies nur ein einziges Mal zuvor gesehen haben. Auch wenn sich die Person zwischenzeitlich äußerlich verändert hat, auch wenn nur spärliche visuelle Informationen zur Verfügung stehen. Die Fähigkeit soll sich kaum trainieren lassen, die Quelle des Talents ist weitgehend unbekannt. [1]

Was sich nach schlechtem Superheld*innen-Comic anhört, weckt seit einigen Jahren große Begehrlichkeiten bei der Polizei: Die Möglichkeit, ein Beweismittel mit scheinbar außergewöhnlichen Fähigkeiten in den eigenen polizeilichen Reihen zu haben ist zu verlockend, als dass man dafür nicht rechtsstaatliche Prinzipien außer Acht lassen könnte.

Die vermutlich erste SR-Einheit wurde bei der London Metropolitan Police geschaffen, bestehend aus Polizist*innen, welche bei den London-Riots im August 2011 eine hohe Anzahl von Täter*innen anhand von Videoaufnahmen identifiziert haben [2] .

Das Phänomen SR war bald darauf Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen verschiedenster Qualität. Populärwissenschaftliche Bekanntheit hat hierbei die University of Greenwich erlangt, welche auf ihrer Homepage auch einen SR-Test anbietet.

In Deutschland sind SR erstmals bei den Ermittlungen zu sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht 2015 / 2016 in Erscheinung getreten. Damals noch im Wege der Amtshilfe durch die britische Polizei. Auch hier kam es zu Identifizierungen. Das Interesse der deutschen Polizei an eigenen SR-Einheiten war geweckt. [3]

In Sachsen gibt es ein Pilotprojekt bei der Polizeidirektion Chemnitz. Die „Koordinierungsstelle Wiedererkenner“ ist 2022, mit 20 Polizist*innen gestartet, ausgewählt nach dem Greenwich-Test. Die Polizeidirektionen Leipzig und Dresden folgten ein Jahr später. [4] Das bekannteste Beispiel für ein sächsisches Ermittlungsverfahren unter Beteiligung von SR ist das Stadtderby der Fußballvereine BSG Chemie und Lok Leipzig vom 7. Mai 2022. Dort kam es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Polizei und Heimfans in der Spielstätte der BSG Chemie, dem Alfred-Kunze-Sportpark. Die Polizei musste sich zurückziehen und konnte daher am Tag selbst keine Personalienfeststellungen durchführen. Im Nachhinein erfolgte eine umfangreiche Videoauswertung und eine Öffentlichkeitsfahndung nach ca. 120 Personen. SR waren über Monate in die Ermittlungen eingebunden. Bei bestimmten Heimspielen von Chemie sind SR persönlich im Stadion anwesend und versuchen Personen aus der Öffentlichkeitsfahndung wiederzuerkennen.

Greiftrupps der Hundertschaft machen sodann Personalienfeststellungen und Erkennungsdienstliche Behandlungen. Auch zwei Jahre nach dem Vorfall kam es noch regelmäßig zu solchen Maßnahmen. Die Gerichtsverhandlung zum Derby vom 7. Mai 2022 dauern an, in einigen davon werden SR als Zeug*innen auftreten.

Bild: Cannstatter Kurve

Bei der kritischen Beleuchtung des Phänomens SR drängt sich zunächst die Frage auf, von welcher Qualität deren Wiedererkennungsfähigkeiten sind und ob das Prädikat „super“ angemessen ist.

Betrachtet man den Test der Universität Greenwich, welcher zweifellos zum Mythos SR beigetragen hat, so fällt auf, daß der Versuchsaufbau einfach und statisch, gewissermaßen laborhaft anmutet. Die Fotos, welche gezeigt werden, sind gut ausgeleuchtet, haben die Qualität von Passbildern oder sogar erkennungsdienstlichen Bildern. Es sind keine bewegten Bilder und die Personen, zwischen denen eine Entscheidung getroffen werden soll, wirken nicht sonderlich ähnlich. Gute Ergebnisse bei diesem Test zu erzielen scheint nicht allzu schwierig zu sein.

Einen anderen Versuchsaufbau wählt eine Studie der Universität Bournemouth aus dem Jahr 2016. Die Proband*innen sollten sich Porträts von 20 Personen einprägen, hierzu hatten sie fünf Sekunden pro Bild Zeit. Anschließend wurden ihnen 40 Videoclips von fünf Sekunden Länge vorgespielt. Nur in 20 Videoclips waren die Zielpersonen enthalten. Die Videoclips hatten die Qualität von Überwachungskameras. Bei dieser Studie betrug die Treffsicherheit einer Proband*innen-Gruppe von zwanzig SR 67 %. Die Ergebnisse der SR-Gruppe war um 9 %-Punkte besser als die der Kontrollgruppe [5]. Eine Treffsicherheit von 67 % mag sich für Laien gut anhören. Forensisch gesehen ist dies jedoch kein hoher Wert.

Wenn es vor Gericht um die Frage von Schuld oder Unschuld geht, kann eine Fehlerquote von einem Drittel nicht hingenommen werden. Eine Verurteilung kann sich allein auf solche Ergebnisse nicht stützen.

Zum Verdacht der Pseudowissenschaftlichkeit tragen zum einen Aussagen von einzelnen SR bei, welche zurzeit, scheinbar im Rahmen eine polizeilichen PR-Kampagne, immer öfter den Weg in Zeitungsartikel und Nachrichtenbeiträge finden. So z.B. der Polizeibeamte André, welcher sich gegenüber dem NDR [6] zu seinen Fähigkeiten geäußert hat: „André achtet, erzählt er uns, auf das Gesicht, auf die Motorik, auf die Gesamterscheinung, auch auf die Klamotten. In erster Linie sei es aber das Bauchgefühl, auf das er hört. Sein Bauchgefühl sage ihm, dass das die Person zu dem Bild sei, das er sich vorher angesehen hat (…)“.

Zum anderen bemühen sich die Polizeibehörden leider nicht um wissenschaftliche Pluralität. Sie stützen sich nicht auf unterschiedliche Forschungseinrichtungen. Mit Ausnahme von Berlin und Rheinland-Pfalz, welche mit der Universität von Lausanne zusammenarbeiten, setzen alle anderen deutschen Landespolizeibehörden auf den Test der Universität Greenwich. Zudem sparen diese Polizeibehörden am falschen Ende: eine Qualitätskontrolle findet bei deren SR-Programmen nicht statt, Erfolge werden nicht gemessen. [7]

Schließlich gibt es auch Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Universität Greenwich, welche nicht geeignet sind, den Vorwurf der Pseudowissenschaftlichkeit auszuräumen. Die Uni veröffentlicht die wissenschaftliche Auswertung ihrer Testreihe nicht.[8] Es gibt Personen, mit denen die Uni zusammengearbeitet hat, welche einen unseriösen Eindruck hervorrufen: Die SR-Einheit der Londoner Polizei ist 2017 aufgelöst worden. Der Gründer dieser Einheit musste die Polizei wegen rechtspopulistischer Äußerungen verlassen.

Seitdem ist er im Wirtschaftsunternehmen Super Recognisers International Ltd. tätig, welches mit einem Professor der Uni eng zusammenarbeitet. Nach dem ersten kostenpflichtigen SR-Test kann man über vier weitere kostenpflichtige Stufen bis zum „Honorary Fellow“ aufsteigen. Die Zertifikate werden in den Räumen einer Freimaurerloge übergeben. [9]

Trotz der derzeit stattfinden publikumswirksamen Einführung von SR als neue „Geheimwaffe“ der Ermittlungsbehörden, fragt sich, was wirklich neu ist an dieser Ermittlungsmethode? Polizeiliches Intranet mit Lichtbildmappen von Verfahren gegen Unbekannt und motivierte Hunderschaftspolizist*innen, welche sich vor Fußballspielen und Demos diese Lichtbildmappen angesehen haben, gab es schon immer. Neu an SR ist der Versuch, das, was früher eher zufällig durch besonders motivierte einzelne Polizisten*innen geschehen ist, zu institutionalisieren.

Bild: Nordkurve Nürnberg

Trotz aller interessanten Neuheit scheinen SR gleichsam auch aus der Zeit gefallen zu sein:

Polizeibeamt*innen, die in mühevoller Kleinarbeit an Computern stundenlang Bilder und Videos durchklicken wirken in Zeiten von KI, Algorithmen und smarten Systemen altbacken und von gestern. Erfreulicherweise ist zurzeit die live-Auswertung von Videoaufzeichnungen durch biometrische Gesichtserkennung und KI (noch) nicht zulässig.

SR könnten jedoch den Versuch darstellen, dieses Verbot zu umgehen, also die menschliche Alternative zur biometrischen live-Gesichtserkennung zu sein.

Sicher zu befürchten steht, dass der Einsatz von SR im Ermittlungsverfahren und im Gerichtsverfahren zur Relativierung von anerkannten Beweisstandards führen wird. SR selbst sind keine Tatzeug*innen, auch keine Sachverständige*n, sie sind lediglich Ermittlungsbeamt*innen mit einem „Bauchgefühl“. Der anerkannte Standard für Identifizierung ist im Ermittlungsverfahren bisher die sog. Wahlgegenüberstellung (geregelt in Nr. 18 der Richtlinie für das Straf- und das Bußgeldverfahren). Hierbei soll zur Klärung der Täterschaft die Identifizierung aus einer Gruppe von Personen gleichen Geschlechts, ähnlichen Alters und ähnlicher Erscheinung, unter welchen sich sowohl der Beschuldigte als auch mehrere Unbeteiligte befinden, erfolgen. Die Gegenüberstellung soll in einer Weise durchgeführt werden, die nicht erkennen lässt, wer von den Gegenübergestellten der Beschuldigte ist. Der anerkannte Standard im Gerichtsverfahren ist das anthropologische Sachverständigengutachten. Es wird durch Wissenschaftler*innen erstellt und nicht durch Polizeibeamt*innen. Es liegen Vergleichsbilder vor. Körper und Gesicht werden in Zonen aufgeteilt. In den Zonen werden nach übereinstimmenden persönlichen Merkmalen gesucht. Es gibt standardisierte Formulierungen, wann eine Identifizierung beweissicher angenommen werden kann und wann nicht. Es gilt das Vier-Augen-Prinzip. All diese Qualitätsmerkmale werden bei Identifizierungen durch SR nicht eingehalten.

Es ist zu wünschen, dass sich Strafverteidiger*innen mit allen prozessualen Mitteln gegen die Etablierung von SR als Beweismittel zur Wehr setzen. Ebenso ist zu wünschen, dass sich Demonstrant*innen und Fußballfans reflektiert im öffentlichen Raum bewegen und sich vergegenwärtigen, in welchem Ausmaß die Polizei diesen mittlerweile durchdringt.

Ein hohes Bewusstsein für den eigenen Datenschutz und das Ausreizen von schützenden Accessoires und nicht-individuellen Kleidungsstücken bis knapp an die Grenze des Vermummungsverbots heran, können hierbei gewiss hilfreich sein.

Rechtspolitisch sind SR abzulehnen, ihr Einsatz dürfte derzeit verfassungswidrig sein. Es handelt sich hierbei um einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Eine erforderliche Gesetzesgrundlage ist aktuell hierfür nicht vorhanden. Immer wieder wird die sog. Ermittlungsgeneralklausel (&$ 161, 163 StPO: „Ermittlungen jeder Art vorzunehmen, soweit nicht andere gesetzliche Vorschriften ihre Befugnisse besonders regeln“) ins Spiel gebracht. Erlaubt sind nach $$ 161, 163 StPO jedoch nur Maßnahmen mit geringem Eingriffsgewicht. Bei den Ermittlungen zum Leipziger Stadtderby z.B. sollen SR monatelang in die Ermittlungen eingebunden gewesen sein. Dabei dürfte die Schwelle der §§ 161, 163 StPO deutlich überschritten sein.

Abschließend ist auf eine aktuelle BGH-Entscheidung hinzuweisen (Fundstelle: BGH, Beschluss vom 24.04.2024 – Aktenzeichen: 5 StR 21/24), welche erfreulich skeptisch bezüglich des Phänomens SR ausgefallen ist: „Angesichts der wissenschaftlich nicht abschließend geklärten Qualifikation von sog. ,Super Recognizern‘ dürfte hinsichtlich des Beweiswerts von Identifizierungen oder Wiederkennungsleistungen solcher Zeugen davon auszugehen sein, dass insoweit keine anderen Maßstäbe gelten, als bei anderen Zeugen. Das muss jedenfalls gelten, solange ein höherer Beweiswert wissenschaftlich nicht begründet ist.“

  1. Ramon, Bobak: Die Gesichterprofis, in Spektrum vom 27.09.18
  2. Spektrum-Artikel vom 27.09.18
  3. Schindler, Die menschliche Alternative zur biometrischen Gesichtserkennung, in ZD-Aktuell, 2019, S. 6730 ff.
  4. Kleine Anfrage 7/13164 von MDL Jule Nagel vom 01.06.23; Bruhn, Die Menschen mit dem Super Blick, TAZ-Artikel vom 29.07.23; MDR-Artikel, Polizei Sachsen setzt auf mehr Fachleute für Gesichtserkennung.
  5. Spektrum-Artikel vom 27.09.18
  6. Kodlin, Wie die Polizei mit Super-Recognizern verdächtige Fans findet, NDR-Artikel vom 01.04.2024
  7. TAZ-Artikel vom 29.07.23
  8. TAZ-Artikel vom 29.07.23
  9. TAZ-Artikel vom 29.07.23